Bericht vom 2.Vortex Power „Wasser-Tag“ im Ticino Oktober 2022

November 10, 2022 5 min. Lesezeit

Bericht vom 2.Vortex Power „Wasser-Tag“ im Ticino Oktober 2022

Autor: Erica Bänziger

Lektorat: Karina Furrer

Fachkorrekturen: Flavio Zappa

Fotos: Matthias Mend/VortexPower, Katleen Wendland

Wir trafen uns im wasserreichen Maggiatal am schönen Wasserfall in Bignasco. Die Idee war, dass wir auf dem Wasserweg in Bignasco mehr über die Bedeutung des Wassers hier im Tal erfahren sollten. Am Nachmittag stand, nach einem feinen Mittagessen in der „Osteria Dazio“, die Besichtigung der alten Mühle und Schreinerei in Fusio auf dem Programm. Beide Objekte werden dank Wasserkraft immer noch betrieben.

Am Morgen begrüssten wir den Fachmann für Alpine Geschichte und Kultur Flavio Zappa; er studierte Alpine Kultur, arbeitet und forscht als selbständiger Historiker im Tessin.
Wir wanderten dann zusammen auf dem Wasserweg „Via dell acqua“.



Diesen hat die Gemeinde Bignasco vor etwa 10 Jahren eröffnet. In Bignasco hat das Wasser im Leben der Bevölkerung immer schon eine zentrale Rolle gespielt. Das Dorf Bignasco liegt an zwei Flüssen, von Fusio her kommt die Lavizzara, so heisst ab Bignasco das obere Maggiatal, denn eben auch Val Lavizzara, ab Bignasco ist es dann das Maggiatal bis nach Ponte Brolla hinunter. Hier mündet auch die Bavona in die Maggia. An einem Kreuzungspunkt zweier Flüsse entsteht übrigens immer ein besonderer Kraftplatz. Im Dorf gibt es auch zwei alte und eine moderne Brücken über die Maggia und so ist ein häufiger Nachname im Dorf: Del Ponte, was soviel wie „von der Brücke“ heisst.
Im gesamten Maggiatal spielen der Fluss Maggia und natürlich das Wasser eine bedeutende Rolle. Früher war der Zugang zum hinteren Maggiatal, dem Val Lavizzara und zum Valle Bavona nur über eine Fähre über die Maggia bei Visletto erreichbar. Das gesamte Maggia Tal ist rund 50 km lang, es beginnt bei Ponte Brolla auf 250m Höhe und steigt bis zum Gipfel des Basodino auf 3‘200 m an.
Das Wasser ist für die ganze Bevölkerung und für die Tiere ein wichtiges Lebenselixier, allerdings gleichzeitig auch eine Bedrohung, denn es verursacht oft auch schwere Erdrutsche und gefährliche Überschwemmungen. Vor allem da die Berge im ganzen Tal sehr steil und felsig sind, kann nur wenig Wasser im eher humusarmen Boden gebunden werden. So fliesst das (zu) viele Regenwasser, dann sehr rasch in grösseren Mengen direkt über die Hänge ins Tal. Durch den Basodino bildet das hintere Tal auch eine Art natürliche Staumauer für die feuchten Luftmassen aus dem Mittelmeer, was zu heftigem Regen führt.
Deshalb hat man z.B. in Bignasco als Schutz vor dem vielen Wasser an den Bergflanken auch Wasserrinnen gebaut, damit wenigstens die wenigen und wichtigen Anbauflächen nicht weggeschwemmt wurden. Man baute Roggen, Gerste, später sicher auch Kartoffeln, Mais und Hanf an, sowie diverse alte Getreidesorten wie Panico. Ferner waren auch die Kastanien eine weitere wichtige Nahrung für die damalige Bevölkerung des Tals: der Kastanienbaum heisst ja nicht umsonst auch Brotbaum. Der auf den Alpen produzierte Käse war ebenfalls kostbar. Als Trinkwasser wird im gesamten Tal Quellwasser ins Haus geleitet.

 

 


Im 19. Jahrhundert begann es dann im Maggiatal auch mit dem Tourismus; es ent-stand in Bignasco das Hotel du Glacier, da man vom Hotel aus direkt einen Blick auf den Gletscher des Basodino hat; leider wird dieser (laut Experten) aber wohl in ca. 10 Jahren komplett verschwunden sein - aufgrund der derzeitigen Verände-rungen des Klimas. Im Hotel du Glacier konnte man früher auch einen Bergführer buchen und mit ihm den Gletscher begehen. Ab 1907 hatte das Maggiatal dann auch noch einen Zug, die „Valmaggina „ und durch den Bau der Eisenbahn gab es fortan auch Strom im Tal. Die Bahn diente jedoch hauptsächlich der Steinindustrie, die anfangs des 20. Jh. einen grossen Schwung kannte.

Ausserdem nutzte man bereits damals für den Tourismus den heutigen Wanderweg des Wassers, um zu drei schönen Wasserfällen zu kommen. Sie haben alle französiche Namen, das klang gut und schien etwas Besonderes und Edles. Einer heisst „Au Bain de Néron“, keiner weiss genau warum. Auf dem begangenen Wasserweg steht eine heilige Kapelle, die der Madonna di Monte geweiht ist. Früher zelebrierte man dort bestimmte Heilrituale, man bat um Heilung für die Kranken.

Das obere Val Lavizzara besteht heute als eine einzige Gemeinde, alle 6 umlie-genden Dörfer gehören inzwischen dazu, es leben hier rund 640 Einwohner. Das gesamte Maggiatal dehnt sich über eine sehr grosse Fläche, es bedeckt ca. 1/5 des gesamten Tessins, ist jedoch nur sehr dünn besiedelt … die Einwohnerdichte entspricht hier derjenigen von Island.

 

 


Fusio selber liegt auf 1‘300 m, wo wir uns also in der Antica Osteria Dazio zum feinen Mittagessen versammelten. Der Ort wurde auf einem Felssporn gebaut. Hier wurde bereits zu Zeiten der Römer um 4-500 n. Chr. gesiedelt, es ist aber nicht klar, ob es sich um eine feste oder eine temporäre Siedlung handelte. Permanent bewohnt ist Fusio sicher seit der Jahrtausendwende.
1‘256 ist die erste urkundliche Erwähnung von Fusio; eine Kirche ist hingegen seit dem 15. Jh. bewiesen. Als dann in den 1950er Jahren die Staumauer des Sambuco Staudamms (102m) gebaut wurde, lebten bis zu 1‘000 Leute im Dorf. Heute sind es ganzjährig nur noch ca. 30-35 Personen.
Der Felsvorsprung bietet einen sicheren Schutz vor dem Hochwasser, und auch vor Lawinen, ferner hat man das Tal sehr gut im Blick gehabt. So konnten Tiere und menschliche Feinde rasch erkannt werden. Ausserdem hat man mit dem Bau der Häuser auf dem Felsen kein wertvolles Kulturland für die Viehhaltung und den Anbau von Getreide verloren. Rund um Fusio gibt es viele Weiden und sehr viele Alpen. Die Ställe der Tiere stehen etwas entfernt vom Dorf, so bestand auch weniger die Gefahr von Feuer für die Wohnhäuser, wenn einmal ein Heustall brannte.
Die Gemeinde war früher wohlhabend, denn durch die Milchwirtschaft konnte man wertvollen Käse gut verkaufen. Heute noch wird hier vor allem Ziegen- und Kuhmilch zu hochwertigem würzigem Käse verarbeitet.
Kastanien hingegen wachsen hier oben keine mehr, so dass der Anbau von Ge-treide, Roggen und Gerste wichtig für die damalige Ernährung wurde.
Von Fusio gelangt man über diverse Alpenpässe u.a. nach Airolo, ins Val Bedretto etc. Die Bauern zogen damals sogar mit Tieren zu Fuss bis nach Airolo auf den Viehmarkt.
Der Tourismus begann in Fusio, wie auch sonst im Tal im 19. Jahrhundert. Hier oben hat man immer schon Getreidemühlen und Stampfmaschinen mit Wasserkraft betrieben. Einige dieser Anlagen durften wir besichtigen.

So konnte das Korn gemahlen und der Hanf zu Seilen verarbeitet werden. Das Wasser wurde auch benutzt um die Säge einer Schreinerei zu betreiben. Diese war sogar noch bis vor 60 Jahren im Betrieb; heute wird sie nun als Museum restauriert und dann zugänglich gemacht.
Flavio Zappa, unser Tourenleiter hat uns an diesem ganzen Tag sehr viel über das Tal und das Tessin erzählt, und mit vielen neuen Eindrücken rund um Wasser und die Geschichte des Tals verliessen wir es gegen Abend.

Unser Blick auf das Wasser als Lebensgrundlage, jedoch auch der Tatsache, dass es zu einer grossen Bedrohung werden kann, wurde wieder geschärft.